„Wisse, dass du eine kleine zweite Welt bist und dass die Sonne und der Mond in dir selbst sind, und ebenso die Sterne“
Origenes (ca. 200 n.Chr.)
„What is your star?“
Wenn Sie in Indien einen Astrologen treffen, wird er Sie nicht fragen, in welchem Zeichen Ihre Sonne steht (woran die westliche Astrologie sich orientiert), sondern er wird fragen „what is your star?“ - „Was ist Ihr Stern?“. Mit diesem Stern ist das Nakshatra gemeint, in welchem Ihr Mond im Horoskop steht.
Am Ursprung jeder Astrologie standen vielleicht überall in der Welt die Gestaltveränderungen des Mondes und seine Bewegungen am Fixsternehimmel. Der Lauf des Mondes (Chandra) und der übrigen Wandelsterne (Planeten, Grahas) vor dem Hintergrund der (scheinbar) unbeweglichen Fixsterne bildet den wohl ältesten Teil der indischen Astrologie.
Nakshatra bedeutet so viel wie „Stern“ oder möglicherweise so viel wie „Nachthüter“ oder "Schutz der Nacht". Ein Nakshatra ist eine Fixsternekonstellation oder der Leitstern derselben. Das Rund des Nachthimmels wird eingeteilt in 27 Nakshatras à je13°20’. Sie entsprechen den 27 Stationen des Mondes bei seinem Umlauf um die Erde, jede Nacht ein Nakshatra. (siderischer Mondumlauf = 27,32 Tage = 27 d 07 h 43 m)
Die 27 Nakshatras sind das Fundament der vedischen Astrologie. Sie bieten uns eine sagenhafte Fülle an Bildern und Geschichten. Sie werden bei der Horoskopdeutung benutzt, um die Qualität des Zeichens differenzierter und tiefgehender zu deuten. Manchmal ist es sogar so, dass sich die Horoskopeignerin überraschend präzise wiederfindet in den Mythen und Bildern des jeweiligen Nakshatras, in welchem sich ihre persönlichen und zeitlich ausgelösten Planeten befinden.
Beispiel Asvini
Im Jahr 2011 hatte ich einen Reitunfall. Das Pferd galoppierte einen Weg hinauf, stolperte, fiel plötzlich auf seine Knie und ich stürzte mit ihm, wobei ich mir schmerzhafte Verletzungen zutrug. Interessanterweise war zur Zeit des Sturzes eine ganze Planetenballung im Nakshatra Asvini, und zwar genau im 8.Haus meines Horoskopes.
Das Nakshatra Asvini ist das erste im Tierkreis und umfasst den Abschnitt von 0° bis 13°20 des Widder-Zeichens im siderischen Tierkreis. Am Himmel oben wird es markiert durch die Sterne der Widder-Konstellation (alpha u. beta Arietis).
Asvini wird übersetzt als „Pferdefrau“ und wird meist dargestellt als ein Pferdekopf. Das 8.Haus hat zu tun mit dem Niedergang der Lebensenergie und wird u.a. mit Unfällen und plötzlichen Krisen in Verbindung gebracht. Zusammen mit einigen weiteren auslösenden Faktoren hat dies den Unfall mit dem Pferd bzw. den „Fall der Pferdefrau“ sehr direkt angezeigt.
Chandra und die Nakshatras
In der vedischen Mythologie wird erzählt, Chandra, der Mond, sei ein glänzend-schöner, charmanter junger Mann gewesen. In den damaligen Zeiten stand er immer in seinem vollen Glanz am Himmel, d.h. es war immer Vollmond. Leuchtend und gut aussehend war er mit 27 Sternenfrauen verheiratet, den Nakshatras (wobei es bemerkenswert ist, dass der Sternenhimmel weiblich dargestellt wurde; wir kennen das in unserer Kultur auch, z.B. die christliche MARIA mit ihrem dunkelblauen Sternenmantel und der Krone mit 12 Sternen).
Jede Nacht verbrachte Chandra mit einer der Nakshatras und am nächsten Tag zog er wieder ein Stück weiter am Himmel. Nun begab es sich aber, dass er sich in Rohini, eine der 27 Frauen, immer mehr verliebte. Rohini war so wunderschön! Sie konnte zauberhaft singen und tanzen. Ihre Stimme war so verführerisch, ihre Bewegungen so sinnlich. Sie duftete so betörend und schmückte sich mit den schönsten Blumen. Ihre Liebeskünste waren so unübertrefflich, dass Chandra schliesslich nur noch bei Rohini blieb und von den 26 anderen Frauen nichts mehr wissen wollte. Das schürte Neid und Eifersucht. Die vernachlässigten Nakshatras beklagten sich bei ihrem Vater Daksha. Dieser ermahnte den Mond, alle Frauen gleich zu behandeln, aber Chandra hörte nicht auf ihn und blieb weiter nur bei Rohini. Die beiden wollten, dass ihre romantischen Stunden für ewig andauern. Sie genossen ihre stetige Nähe so sehr, dass sie darob all ihre kosmischen Aufgaben vergassen. So kam es, dass der Mond jede Nacht am Himmel am gleichen Ort stehen blieb und sich nicht mehr weiter bewegte. Chandra blieb bei Rohini hängen und sein himmlischer Lauf blieb stecken.
So konnte es nicht weiter gehen. Als alles Zureden nichts half, verfluchte Vater Daksha den Mond schliesslich, sein Licht zu verlieren. Und so schwand sein Glanz dahin, er wurde von Nacht zu Nacht immer dünner und schmächtiger, und schliesslich war am Himmel nichts mehr von ihm zu sehen. Das Verschwinden des Mondes hatte tragische Folgen für die ganze Schöpfung. Die ganze Vegetation auf der Erde hörte auf zu wachsen. Die Wasser trockneten ein, die Pflanzen welkten ab, die Tiere fanden kein Futter mehr, die Menschen litten Hungersnöte und schwanden ebenfalls dahin. Das gesamte Leben war bedroht. Alarmiert von diesen Zuständen intervenierten die Götter und begaben sich zum grossen Daksha. Dieser sah ein, dass sein Fluch das Leben gefährdete und er willigte ein zu einem Kompromiss:
Der Fluch konnte nicht gänzlich aufgehoben werden, aber Chandra bekam ein Heilmittel: wenn er ganz leer und dunkel war, konnte er hinabtauchen in das Sarasvati Tirtha im westlichen Ozean (ein Ort spiritueller Reinigung). Durch dieses Bad kann er sich heilen und verjüngen und danach wieder auferstehen in sein Licht. So gewann Chandra seinen Glanz wieder zurück, er durfte wieder wachsen und stärker werden. Allerdings nur für den halben Monat und nur unter der Bedingung, dass er sich wieder vorwärts bewegt am Himmel und alle Frauen gleich gut behandelt. Durch diesen Rhythmus wurde das himmlische Gleichgewicht wieder hergestellt und Chandra wandert seither jede Nacht von einer Nakshatra zur nächsten. So kam es, dass wir heute den Mond am Himmel zwei Wochen zunehmen und zwei Wochen abnehmen sehen, vom Vollmond zum Leermond und wieder zurück.
Anmerkung:
Es gibt viele Varianten dieser Geschichte. Die Erzählung von Chandra und den Nakshatras stammt aus der Übergangszeit vom Matriarchat zum Patriarchat und enthält Elemente beider Kultursysteme. Ursprünglich war es nicht der Vater der Nakshatras, der für die Einhaltung der kosmischen Ordnung sorgte, sondern deren Mutter.